Freundschaft: Aicha el-Wafi und Phyllis Rodriguez

Eine Freundschaft größer als der Hass

Seit dem 11. September 2001 ist für viele Familien nichts mehr so, wie es mal war. Zahlreiche Frauen verloren ihre Männer, Mütter ihre Kinder. Auch der Sohn der jüdischen Amerikanerin Phyllis Rodriguez starb in den stürzenden Türmen des World Trade Centers. Der Sohn der gebürtigen Marokkanerin Aicha el-Wafi ist durch dieses Ereignis lebendig begraben geworden - in einem Hochsicherheitsgefängnis in Colorado. Denn Aichas Sohn, Zacarias Moussaoui, bereitete die Terroranschläge mit vor, die Phyllis' Sohn das Leben kosteten.

Einen größeren Graben zwischen zwei Menschen kann man sich nicht vorstellen. Und doch haben die beiden mutigen Frauen es geschafft, eine Brücke der Freundschaft über den tiefen Abgrund ihrer Verzweiflung zu bauen. Ihre gemeinsame Geschichte beginnt im November 2002, als sich die beiden traumatisierten Mütter auf eigenen Wunsch zum ersten Mal begegnen. Was beide geahnt haben, bewahrheitet sich sofort: Jede erkennt die große Einsamkeit, den tiefen Schmerz in den Augen der anderen. Spontan umarmen sich Aicha el-Wafi und Phyllis Rodriguez, weinen gemeinsam. Das Mitgefühl für das Leid der anderen webt sogleich ein besonderes Band zwischen ihnen.

Drei Jahre nach dem ersten Treffen - einer Zeit in der sie einander geschrieben und miteinander telefoniert haben - sehen sie sich wieder. Es ist der Beginn des Prozesses gegen Zacarias Moussaoui, der beinahe der zwanzigste Flugzeug-Attentäter geworden wäre, wenn man ihn nicht drei Wochen vor den Anschlägen zufällig in Untersuchungshaft genommen hätte. Die Lehrerin Phyllis, die nach einer Zeit der Wut und unendlichen Trauer zu der Einsicht gelangt ist, dass eine Mutter keine Kontrolle darüber haben kann, was ihre Kinder als Erwachsene machen, kann nichts mehr für ihren Sohn Greg tun - aber sie kann Aicha in dieser schweren Zeit helfen, ihren Sohn vor der Todesstrafe zu bewahren.

Inzwischen hatte Phyllis bereits viel über das leidvolle Leben ihrer Freundin erfahren: Mit 14 Jahren wird Aicha mit einem älteren Nachbarn zwangsverheiratet. Auf dem Hochzeitsfoto ist ein junges Mädchen mit unendlich traurigen Augen zu sehen. Ihre ersten beiden Kinder sterben. Der alkoholabhängige Mann misshandelt sie wieder und wieder. Schließlich bekommt er Arbeit in Frankreich. Aicha wagt es endlich, sich von ihm scheiden zu lassen. Ihre vier Kinder muss sie vorübergehend ins Heim geben, da sie nicht in der Lage ist, sie zu ernähren.

Doch Aicha arbeitet hart, lernt Französisch und schafft es, sich von der Putzfrau zur Beamtin bei der France Télécom hochzuarbeiten. Sie holt ihre Kinder zurück und zieht sie in einem gepflegten Viertel in Narbonne groß. Endlich scheint sich das Schicksal für sie und die Kinder zum Guten zu wenden. Auch Zacarias enwickelt sich gut, schließt sogar ein Studium an der Universität in London ab. Allerdings verliert die weltoffene Muslimin ihren inzwischen erwachsenen Sohn aus den Augen. Aicha hat keine Ahnung davon, dass der häufig unter rassistischen Vorurteilen leidende Zacarias während des Studiums mit islamistischen Hasspredigern in Kontakt kommt …

Auch Phyllis' Sohn Greg war nicht immer ein Musterjunge: Nach einer rebellischen Jugend war er früh Vater geworden, seine Ehe scheiterte rasch, er hielt sich einige Jahre mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Gerade hatte er sein Leben sortiert, wieder geheiratet und einen geregelten Job bei einer Finanzfirma im World Trade Center ergattert. Genau wie Aicha fragt sich Phyllis häufig, ob sie womöglich durch ihre Erziehung etwas im Leben ihres Sohnes hätte verhindern können. Doch das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.