Ich kann mein Kind nicht lieben!

Stolz, Liebe, unendliche Dankbarkeit: Ein neugeborenes Baby löst starke Gefühle aus — nicht immer sind es nur positive. Viele Frauen fühlen sich nach der Geburt ihres Kindes alles andere als glücklich. Sie sind überfordert und können ihr Kind nicht richtig lieben. Vom "Baby-Blues" bis zur postpartalen Depression. Welche Gefühle sind noch normal? Wann braucht die Mutter professionelle Hilfe?

Erschöpfung, Schuldgefühle und tiefe Traurigkeit statt Babyglück (Foto: Thinkstock)
Erschöpfung, Schuldgefühle und tiefe Traurigkeit statt Babyglück (Foto: Thinkstock)

Ein Kind verändert alles
In der ersten Woche nach der Geburt rutschen viele frischgebackene Mütter in ein Stimmungstief. Sie weinen häufig und fühlen sich der neuen Situation nicht gewachsen. Zudem spüren Sie die Last der Verantwortung, die sie für den kleinen Erdenbürger übernommen haben oder merken zum ersten Mal, dass das Leben mit dem Baby nicht ganz ihrem Bild einer perfekten Familie entspricht. "Der Gedanke, `Ich führe mein Leben weiter als zuvor, nur dass ich jetzt ein Kind habe´ ist fatal", weiß Bettina Salis, Hebamme und Buchautorin. "Ein Kind verändert alles. Das Leben mit einem Säugling lässt sich nicht planen wie das bisherige Leben. Man muss viel auf sich zukommen lassen und ein bisschen demütig sein."

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Trotz Krise: Die Liebe zum Kind ist immer da
Zwischen 25 und 80 Prozent der Frauen sind von diesen Stimmungsschwankungen betroffen, schätzen Experten. Aufgrund der Dunkelziffer gibt es keine konkreteren Zahlen. Die Auslöser für den Baby-Blues sind vielfältig: Die Hormonumstellung nach der Schwangerschaft, Schlafmangel, Angst, der neuen Situation nicht gerecht zu werden oder übersteigerte Erwartungen an sich, den Partner und nicht zuletzt an das Kind. Doch trotz aller Negativ-Gedanken: Liebe und positive Gefühle für das Baby sind immer da.

Das hilft beim Baby-Blues
Weinen, zu seinen Ängsten stehen und die ambivalenten Emotionen zulassen: Das tut den betroffenen Frauen gut. Partner, Verwandte und Freunde dürfen diese Gefühle nicht bagatellisieren. Es hilft keiner Mutter, wenn sie hört: "Mit einem gesunden Baby musst Du doch glücklich sein!" Die richtigen Worte findet Bettina Salis: "Ein Kind zu bekommen ist ein großes Ereignis. Dazu gehören große Gefühle, die nicht immer nur positiv sein müssen!" Die beste Unterstützung erfährt eine Frau, wenn sie im Alltag entlastet wird, zum Beispiel beim Kochen, Waschen, Bügeln und Einkaufen. Dann ist das Stimmungstief nach einer Woche vorbei.

Postpartale Depression: Keine Bindung zum Kind
Gehen die negativen Gefühle nicht nach kurzer Zeit von selbst vorüber, muss man von einer postpartalen Depression sprechen. Eine psychische Störung, an der nach Angaben von Experten 10 bis 15 Prozent aller Mütter erkranken. Die Symptome sind weit schlimmer: Diese Frauen haben Schuldgefühle, keine gute Mutter zu sein, leiden an Appetitlosigkeit oder Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Vor allem aber fehlt die Bindung zum Kind: Die betroffenen Mütter schaffen es in der Regel, das Kind zu versorgen. Der Kontakt mit dem Baby ist allerdings monoton, mechanisch und teilnahmslos. Wie in Trance werden die nötigen Aufgaben wie wickeln und füttern absolviert. Für die Mutter ist alles mühsam. Das Kind bekommt kein herzliches, emotionales Feedback, was für seine Entwicklung sehr wichtig wäre.

Ein weiteres Alarmsignal für die Krankheit ist, wenn die Mutter sogar dann nicht abschalten kann, obwohl das Baby schläft - wenn auch dann noch immer die Gedanken um das Kind kreisen und die Mutter nur darauf wartet, dass das Kind wieder aufwacht. "Das Problem ist, dass sich viele Betroffene nicht eingestehen wollen, dass sie krank sind", weiß die Hamburger Expertin Bettina Salis. "Viele Symptome wie Müdigkeit, Schlafstörungen und Erschöpfung lassen sich leicht durch die veränderte Lebenssituation erklären." Auch für Angehörige ist das Krankheitsbild oft schwer zu erkennen. Denn: Nach außen hin versuchen die Frauen, das "Idealbild" einer glücklichen Mutter aufrecht zu erhalten.

Muttergefühle stellen sich nicht ein. (Foto: Thinkstock)
Muttergefühle stellen sich nicht ein. (Foto: Thinkstock)

Höheres Risiko für Karrierefrauen?
Die Auslöser einer postpartalen Depression sind vielfältig. Grundsätzlich kann es Frauen durch alle Gesellschaftsschichten treffen. Gibt es eine Disposition für Depressionen in der Familie, ist das Erkrankungsrisiko besonders hoch. Ein modernes Phänomen: Häufig sind Karrierefrauen betroffen. Sie sind es gewohnt, ihr Leben bis ins letzte Detail zu planen und haben im Job gelernt: "Wenn ich mich richtig anstrenge, dann passiert das, was ich möchte."

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Die Tatsache, dass die ersten Wochen mit dem Baby ein Ausnahmezustand sind und sie das Gefühl haben, die Lage nicht mehr unter Kontrolle zu haben, kann diese Frauen krank machen. Auch übersteigerte Vorstellungen, wie sie selbst als Mutter oder das Baby funktionieren sollen, können ein Auslöser sein. Kommt dann noch der ständige Vergleich mit vermeintlich glücklichen Müttern, bei denen alles reibungslos läuft, verschärft sich das Krankheitsbild.

"Wenn ich mein Kind töte, wird alles gut!"
In ganz schlimmen Fällen birgt eine postpartale Depression ein Todesrisiko für Mutter und Kind. Die Frauen sind so verzweifelt, dass sie denken "Ich bringe das Kind um, dann ist alles wieder so wie vorher". Andere spielen mit Selbstmordgedanken. "Wenn in den Medien wieder ein Fall bekannt wird, wo eine Mutter ihr Baby getötet hat, sind wir zutiefst erschüttert", sagt Bettina Salis, "vielleicht litt die Mutter aber an einer nicht behandelten postpartalen Depression. Wäre ihr geholfen worden, hätte man das Unglück vielleicht verhindern können."

Professionelle Hilfe annehmen
Einigen depressiven Frauen hilft schon das regelmäßige Treffen in einer Selbsthilfegruppe. Dort erfahren Sie: Ich bin nicht allein mit meinem Problem, ich bin nicht minderwertig, ich werde wieder gesund werden. Viele Frauen werden in einer mehrwöchigen ambulanten Behandlung durch Psychologen oder Psychiater wieder geheilt. Nur wenige Frauen müssen stationär aufgenommen werden.

Wer Hilfe braucht, sollte sich seiner Hebamme oder seinem Gynäkologen anvertrauen. Eine erste Anlaufstelle können auch die bundesweite Selbsthilfeorganisation Schatten und Licht e.V. (www.schatten-und-licht.de) oder die Marcé-Gesellschaft für Peripartale Psychische Erkrankungen e.V. (www.marce-gesellschaft.de) sein. Hier gibt es Informationen über Behandlungsmöglichkeiten und Adressen von Fachleuten.

Familienangehörigen und Freunden Betroffener rät Bettina Salis: "Versuchen Sie es nicht alleine hin zu kriegen. Nehmen Sie die Krankheit ernst und lassen Sie sich von Fachleuten helfen."