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Haben Sie ein Lieblingskind?

Während die meisten Menschen wahrscheinlich zugeben würden, dass sie ein Elternteil mehr lieben als das andere, täten sich ebenso wahrscheinlich sehr viele Menschen schwer damit, einzugestehen, als Eltern selbst ein Lieblingskind zu haben. Zu groß ist das Schuldgefühl, denn schließlich sollte man doch alle seine Kinder gleich lieben, oder? Tatsächlich jedoch ist es nicht ungewöhnlich, dass die Liebe zu verschiedenen Kindern auch unterschiedlich erlebt werden kann. Doch was können Gründe und Konsequenzen sein?

Viele Eltern haben ein Lieblingskind. Wichtig ist jedoch, es niemals offen zur Schau zu tragen (Bild: thinkstock)
Viele Eltern haben ein Lieblingskind. Wichtig ist jedoch, es niemals offen zur Schau zu tragen (Bild: thinkstock)

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Sicher, es gibt Phasen, in denen sich die elterliche Aufmerksamkeit und Liebe aus einleuchtenden Gründen unterschiedlich verteilt: Ein neugeborenes oder krankes Kind benötigt — zumindest temporär — mehr Zuneigung als die anderen Kinder. Das schlechte Gewissen dürfte sich jedoch dann bei Eltern melden, wenn sie dauerhaft eines der Kinder vor dem anderen bevorzugen. Allein das Wort "Bevorzugung" impliziert für Eltern eine Wertung, die ihnen unbehaglich ist. "Wichtig ist für Eltern zu verstehen — und sich auch einzugestehen —, dass Bevorzugung des einen und die Liebe für das andere Kind sich nicht ausschließen müssen", so der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Thomas Wagner. "Ein Kind zu bevorzugen bedeutet nicht, das andere nicht zu lieben, sondern vielmehr, sich zu einem Kind mehr hingezogen zu fühlen — aus den unterschiedlichsten Gründen."

Weshalb wir unsere Kinder nicht immer gleich lieben
Jede Person ist einzigartig und somit unterscheiden sich auch die Beziehungen zwischen Menschen. Da bildet auch die Eltern-Kind-Interaktion keine Ausnahme. Eltern lieben ihre Kinder oft auf eine unterschiedliche und ganz eigene Art, die schwer vergleichbar ist. Die Faktoren, die Einfluss auf die Beziehungen zu verschiedenen Kindern haben können, sind dabei mannigfaltig.

Du bist wie ich
Auch wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kind die wahrscheinlich bedingungsloseste Form von Liebe ist, ist auch sie vor einer narzisstischen Tendenz nicht gefeit. Erkennen sich Eltern in einem Kind wieder, identifizieren sie sich vermutlich stärker mit ihm. "Ähnlichkeit zwischen Mutter bzw. Vater und dem Kind kann ein starker Klebstoff sein. Sie kann den Umgang erleichtern, weil man das Kind besser versteht und sich ihm emotional näher fühlt", sagt Thomas Wagner. "Sie kann aber auch problematisch werden, wenn das Verhalten oder die Persönlichkeit des Kindes Eltern mit eigenen ungeliebten Eigenschaften oder Schwächen konfrontiert", so der Psychotherapeut weiter.

Erstgeborenes und Nesthäkchen
Auch die Geschwisterfolge ist ein Faktor, der Einfluss auf die Behandlung bzw. Bevorzugung eines Kindes haben kann. Dem erstgeborenen und/oder dem jüngsten Kind kommt dabei häufig eine ganz besondere Stellung zu. Während man mit dem ersten Kind eben alles zum ersten Mal er- und durchlebt, haben Eltern das Nesthäkchen oftmals auch noch dann um sich, wenn die anderen Kinder bereits flügge geworden sind.

Mittelkinder hingegen verlieren den Sonderstatus des jüngsten Kindes mit der Geburt des Nesthäkchens wieder, nehmen aber für gewöhnlich nie den des ältesten Geschwisterkindes ein. Des Weiteren haben sie — im Gegensatz zu den ältesten und jüngsten Kindern — ihre Eltern gewöhnlich zu keinem Zeitpunkt "für sich allein".

Muttersöhnchen und Papas kleine Prinzessin
Das Geschlecht des Kindes mag ein weiterer Einflussfaktor auf die Bevorzugung seitens der Mutter oder des Vaters sein. Doch die weit verbreitete Auffassung, dass Söhne ihren Müttern, Töchter hingegen dem Vater näher stehen, muss nicht ausnahmslos der Fall sein, weiß Thomas Wagner: "Es gibt Konstellationen, in denen sich die Eltern jeweils stärker dem entgegengesetzten Geschlecht zuwenden — gerade weil es den Gegenpol zum eigen Selbst bildet und für gewöhnlich in der Identitätsfindung der Pubertät eine weniger starke Abgrenzung zum komplementärgeschlechtlichen als zum gleichgeschlechtlichen Elternteil stattfindet. In anderen Familien wiederum kann eine stärkere Identifikation mit dem Kind des gleichen Geschlechts stattfinden."

Elterliche Bevorzugung kann unterschiedliche Gründe haben: Sich selbst in seinem Kind zu erkennen, kann einer davon sein (Bild: thinkstock)
Elterliche Bevorzugung kann unterschiedliche Gründe haben: Sich selbst in seinem Kind zu erkennen, kann einer davon sein (Bild: thinkstock)

Wie kann man Bevorzugung entgegen wirken?
Konzentriert sich die elterliche Zuwendung und Aufmerksamkeit in bestimmten Entwicklungsphasen oder Situationen verstärkt auf ein Kind, ist dies für das Geschwisterkind, das zurückstehen muss, für gewöhnlich ohne langfristige Konsequenzen. "Problematisch wird es jedoch, wenn die Bevorzugung eines Kindes dauerhaft ist", weiß Kinder-und Jugendtherapeut Wagner aus seiner Praxis zu berichten. Benachteiligte Kinder haben häufig ein geringeres Selbstwertgefühl und geschwächtes Urvertrauen, das auch über die Kindheit hinaus wirken und die Beziehungen im Erwachsenenalter — sowohl zum Partner als auch zu den eigenen Kindern — nachhaltig beeinflussen kann.

"Auch wenn Eltern sich einem Kind näher fühlen, sollten sie darauf achten, dieses Gefühl ihren Kindern gegenüber niemals offen zur Schau zu tragen. Wichtiger ist, sich als Eltern zu hinterfragen, warum und wie sie ein Kind bevorzugen und was sie tun können, um das auszugleichen", rät Thomas Wagner. "Viele Eltern neigen dazu, eine faire Behandlung all ihrer Kinder mit einer Gleichbehandlung zu verwechseln", so Wagner weiter. "Vielmehr sollten sich Eltern klar machen, dass jedes Kind — abhängig von Alter und Persönlichkeit — unterschiedliche Bedürfnisse hat, auf die es einzugehen gilt. Will man sowohl ein 5-jähriges Kind als auch einen 14-jährigen Jugendlichen fair behandeln, kann man unmöglich gleich mit beiden umgehen. Statt sich um unangebrachte Gleichbehandlung zu bemühen, ist es wichtiger, seinen Kindern das Grundgefühl zu vermitteln, dass sie geliebt werden — unabhängig davon, wie unterschiedlich Faktoren wie beispielsweise Ähnlichkeit oder Verständnis in den Beziehungen zu verschiedenen Kindern auch ausgeprägt sein mögen."

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